Evangelische Kirchengemeinde
Essen-Altstadt

»Ich möchte lieber nicht«

Andacht

„Ich möchte lieber nicht“, ist die Standardantwort von Bartleby im Roman „Bartleby der Schreiber“ von Hermann Melville. Bartleby arbeitet in einem fensterlosen Büro und kopiert Akten. Am Anfang sagt er zu jeder Anfrage, ob diese sinnvoll oder sinnlos ist, immer ja. Bis er eines Tages anfängt zu antworten:

„Ich möchte lieber nicht.“


Sein Umfeld reagiert geschockt auf die Verweigerung der Arbeit und auch im Privatleben beginnt Bartleby, zu allem ab jetzt „Ich möchte lieber nicht“ zu antworten. Für Bartleby steckt in der Verneinung, die einzige Möglichkeit autonom zu handeln. Autonom bedeutet aus dem griechischen übersetzt, sich selbst ein Gesetz geben. Und in der heutigen Gesellschaft und in der heutigen Arbeitswelt ist eine Eigengesetzgebung schwer umzusetzen. Auch Selbstständige sind riesigen Regelkatalogen ausgeliefert. Besteht also unsere einzige Freiheit im Nein sagen? Bartleby geht den Weg konsequent zu Ende, er verliert seine Arbeit, seine Wohnung, kommt ins Gefängnis und verweigert zum Schluss die Nahrung und endet mit dem frei gewählten Tod.

In der Literatur wurde dieser Tod häufig mit dem Tod von Jesus an Karfreitag verglichen. Die Verneinung des eigenen Lebens, führt zu einem Freiheitsmoment. Und auch wenn ich die Radikalität nicht teile, frage ich mich selbst, wo ich frei bin, selbst zu entscheiden. Und ich stelle mir die Frage, ob Jesus an Karfreitag frei war zu entscheiden, oder ob er fremdbestimmt ans Kreuz musste. Für mich eine schaurige Vorstellung.

In den Passionsberichten der Bibel lesen wir von inneren Kämpfen, die Jesus mit sich selbst und mit Gott führt. Im Garten Gezehmane verhandelt er sogar mit Gott über sein Schicksal und nimmt es dann aus eigenen Stücken an. Daraus wird eine Freiheit für uns Christen und Christinnen, die über das Freiheitsmoment von Bartleby hinausgeht.

Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.


So heißt es im 1. Brief an die Gemeinde in Korinth. Die Freiheit und die Selbstgesetzgebung sind hier positiv bestimmt. Mir ist erst einmal alles erlaubt zu tun oder zu lassen, doch es gibt Einschränkungen. Wer ohne Rücksicht auf sich und auf andere handelt, der kann das zwar tun, aber er oder sie muss damit rechnen, dass es Konsequenzen gibt. Es ist also kein Freifahrtschein, sondern eine Zusage, dass wir in Freiheit leben können, dass aber eine Beschränkung sinnvoll ist, damit wir auch die Freiheit behalten.

Eine solche Freiheit nimmt die eigene Verantwortung wahr und schaut gleichzeitig auf die Anderen und welche Folgen aus den eigenen Entscheidungen resultieren können.

Und eine Sache wird beim Vergleich von Bartleby und Jesus komplett vergessen. Die Geschichte mit Jesus endet nicht an Karfreitag und dem Tod, sondern ein neues Kapitel wird mit Ostern aufgeschlagen. Hier liegt die Bejahung des Lebens enthalten und Freiheit zum neuen Beginn.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen freie und beschwingte Tage

Ihr Pfarrer
JONATHAN KOHL