Andacht
Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Psalm 39, 5
Später im Herbst wird uns der kirchliche Kalender ans Trauern erinnern. Der November beginnt mit einem kollektiven Friedhofsgang zwischen Allerheiligen und Allerseelen und endet zum Ende des Kirchenjahres mit Ausblick auf den Advent am Toten- bzw. Ewigkeitssonntag.
Steht sonst im Jahr nur für die Betroffenen und Trauernden die Welt plötzlich still, wenn jemand stirbt und eine Lücke bleibt, werden wir im November miteinander stiller und nachdenklich angesichts begrenzter Lebenszeit und zugemuteter Abschiede.
Ich schreibe diese Zeilen im Sommer, und ein gerade veröffentlichter und unlängst von mir gesehener Kinofilm wird mir zur Unterbrechung und lässt mich – schon jetzt – auf den „November“ blicken: „Eternal you. Vom Ende der Endlichkeit“ ist eine beeindruckende Dokumentation über Unternehmen, die Technologien der „Künstlichen Intelligenz“ (KI) auch im Feld der Trauer um Verstorbene einsetzen. Programme wie „Project December“ oder „You, Only Virtual“ (YOV) werden mit der Sprech- und Redeweise und biografischen Informationen realer Menschen so lange gefüttert, bis sie die Verstorbenen täuschend echt über den Tod hinaus simulieren können. Dabei reichen die Angebote von textbasierten Gesprächen am Bildschirm bis zu virtuellen Treffen mit den „Animationen“ der Verstorbenen unter Verwendung einer sog. VR-Brille. Eine solche Brille erlaubt es vollkommen in eine computererzeugte Welt abzutauchen. Beklemmend und beeindruckend, wie im Film eine Mutter auf diese Weise ihre verunfallte kleine Tochter trifft – und nicht trifft; einem Nervenzusammenbruch nah und zugleich von Millionen Zuschauer*innen der Reality-Show „Meeting You“ beobachtet.
Der Abspann läuft, das Saallicht wird hoch gedimmt, und ich bleibe mit reichlich gemischten Gefühlen zurück. Unangenehm ist mir die Selbstverliebtheit der Technikentwickler, die glauben mit ihren Ideen und Produkten nun auch einen der letzten Menschheitsträume – den der Unsterblichkeit – erfüllt zu haben. Misstrauisch bin ich gegenüber dem Geschäft mit Trauer und Gefühlen, wittere ich doch ein nicht unerheblichen Suchtfaktor, mit solcherart „lebendigen“ Toten dauerhaft und intensiv in Kontakt bleiben zu wollen. Eine Bezahl-App wird das Bezahlen mutmaßlich bequem machen. Zuletzt glaubt der Seelsorger in mir, dass durch diese Technik Trauer eher angehalten und verhindert wird, als dass sie – Schritt für Schritt und durchaus mühsam und schmerzhaft – durchlebt und gelindert wird.
Der Weg durch die Trauer verspricht, dass Bedeutendes erinnernd bleibt, und wir uns dem endlichen Leben täglich neu öffnen können. Mit dieser Haltung bietet Evangelisch Essen-Altstadt weiterhin ganz Analoges an: Mit „Essen jenseits“ gemeinsame Besuche der Friedhöfe der Stadt auch ohne akuten Anlass; am Vorabend des „Totensonntags“ die Trostkraft der Musik; am „Ewigkeitssonntag“ einen Gottesdienst zwischen den Gräbern auf dem Ostfriedhof und danach für Leib und Seele ein Erzählraum mit Kaffee und Kuchen im Gemeindezentrum an der „Auferstehungskirche“. Und vier Adventssonntage später dann jenes „Projekt December“, das wir Weihnachten nennen. Gott wird Mensch; wir müssen nicht Gott werden.
PFARRER ULF STEIDEL